Man kann es Heimat nennen

Ich komme aus dem syrischen Teil Kurdistans. Ich war siebenundzwanzig Jahre politisch tätig und wurde dafür vom Assad-Regime verhaftet. Nach meiner Flucht kam ich 1995 über Paderborn, wo ich als Zeitungszusteller gearbeitet habe, nach Berlin. Ich hatte einmal eine richtige Familie, eine Frau und sechs Kinder. Nachdem sie auch noch zerbrochen ist, wollte mir mein Schwager helfen, und er hat einen Laden in der Leipziger Straße gemietet.
Die Idee war ein Lebensmittelgeschäft zu eröffnen, wir haben dabei aber nicht bedacht, dass es gegenüber schon einen Lidl-Markt gibt. Neunzig Prozent der Waren mussten wir bald wegwerfen. Aus dem Lebensmittelgeschäft wurde ein Multikulti-Spätkauf, den gibt es jetzt seit fast zwei Jahren. Ich bin jeden Tag ab elf bis elf Uhr abends im Laden, wohne aber in Kaulsdorf. Deshalb habe ich mir von meinem bisschen Geld jetzt ein Schrottauto gekauft.
Man kann bei mir auch günstiger einkaufen als sonst in der Umgebung. Ich bin auch nicht wegen des Geldes oder des Kapitals hier. Das Wichtigste ist, dass Menschen kommen. Die Leipziger Straße ist jetzt meine neue Familie, ich habe hier tausend Brüder und Schwestern. Und wenn ich zum Bürgermeister kandidieren würde, würden sie mich auch wählen. Aber mit Politik will ich nichts mehr zu tun haben. Ich habe mein Leben und das reicht mir.
Dieser alte Stuhl steht vor meinem Geschäft. Es ist ein Glücksstuhl. Wenn ich mich draufsetzte, kommen die Leute und alles wird gut.